1 Jahr Psychotherapie in der Grundversicherung: Schnellere Hilfe, die etwas kostet
Das Wichtigste in Kürze:
- Mehr Therapieplätze lindern den Leidensdruck.
- Die Kosten in der Grundversicherung steigen.
- Das BAG beobachtet die Entwicklung.
Tim (22) leidet unter Magersucht. Seit seiner frühen Jugend kämpft er gegen die Krankheit. Mit Anfang zwanzig geht es ihm endlich besser: Er studiert, trifft sich mit Freunden, ist regelmässig bei den Grosseltern zu Besuch. Tim erleidet einen Rückfall und braucht dringend einen Therapieplatz. Doch seit der Pandemie ist das Fachpersonal überlastet und ausgebucht, die Wartelisten sind lang. Bis Tim endlich die nötige Hilfe bekommt, dauert es Wochen.
Menschen wie Tim gibt es hierzulande Tausende. Ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer hat jedes Jahr mit psychischen Problemen zu kämpfen, von denen die meisten behandelt werden sollten, schätzt der Bund. Doch längst nicht alle Betroffenen sind in Therapie: Die Hürden sind oft hoch, das Angebot an Therapieplätzen knapp. Deshalb traf der Bundesrat im Frühling 2021 eine weitreichende Entscheidung: Neu soll die Grundversicherung für einen Grossteil der psychologischen Behandlungen aufkommen und damit auch Leistungen zahlen, die vorher von der Zusatzversicherung gedeckt wurden. Das sollte Wartezeiten verkürzen und den Leidensdruck der Betroffenen mindern. Die neue Regelung ist seit dem 1. Juli 2022 in Kraft.
Was hat sich geändert?
Psychotherapien bei einer Psychiaterin oder einem Psychiater wurden bereits im früheren Modell von der Grundversicherung gedeckt, wenn die nötigen Kriterien erfüllt waren (ärztliche Psychotherapie). Hier hat sich nichts geändert. Anders bei den Psychotherapien, die von Psychologinnen und Psychologen durchgeführt werden (psychologische Psychotherapie): Diese zahlte die Grundversicherung im alten Modell nur, wenn die Therapeutin oder der Therapeut bei einer medizinischen Fachperson angestellt waren – etwa bei einem Psychiater (Delegationsmodell). Arbeitete eine Psychologin selbständig, zahlte in vielen Fällen die Zusatzversicherung einen Teil der Behandlungskosten.
Seit dem 1. Juli 2022 können nun auch selbständige Psychologinnen und Psychologen über die Grundversicherung abrechnen. Unter folgenden Bedingungen:
Die Psychotherapie muss:
- von einer Hausärztin oder einer anderen anerkannten medizinischen Fachperson verordnet sein (Anordnungsmodell).
- von einer Therapeutin oder einem Therapeuten mit einer kantonalen Zulassung und einer gültigen ZSR-Nummer durchgeführt werden.
Wo liegen die Knackpunkte?
Mehr Therapieplätze, eine grössere Auswahl an Therapeutinnen und Therapeuten und frühzeitige Hilfe können das Leiden mindern und verhindern, dass Krankheiten chronisch werden. Das bedeutet aber auch: Mehrkosten in der Grundversicherung.
Laut Schätzungen des Bundes trägt die Grundversicherung neu rund 100 Millionen Franken an Therapieleistungen, die bisher von den Betroffenen selbst oder ihren Zusatzversicherungen bezahlt wurden. Auf lange Sicht sei mit jährlichen Mehrkosten von 170 Millionen Franken zu rechnen, sagte der Bundesrat 2021 zum geplanten Systemwechsel. Der Krankenkassenverband Santésuisse hingegen rechnet mit einem weit grösseren Anstieg der Mehrkosten – und zwar auf 300 bis 500 Millionen Franken pro Jahr.
Gleichzeitig müssen einzelne Versicherte seit dem Modellwechsel einen grösseren Teil der Therapiekosten selber bezahlen. Denn: Die Grundversicherung übernimmt die Therapiekosten erst nach Abzug von Franchise und Selbstbehalt. Wer eine Franchise von CHF 2‘500 hat, trägt also die Kosten bis zu diesem Betrag selbst.
Nicht von der Grundversicherung bezahlt werden ausserdem Behandlungen bei Psychologen, die keine kantonale Anerkennung haben. Hier springt unsere Zusatzversicherung Mivita ein: Ist die Therapie ärztlich verordnet, beteiligen wir uns über die Zusatzversicherung an Ihren Behandlungskosten.
Wie weiter?
Die neuen Regeln sind eingeführt, mit erneuten grösseren Anpassungen ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Um die Auswirkungen des Systemwechsels auf die Kosten und die Versorgungssituation zu beobachten, will das Bundesamt für Gesundheit (BAG) allerdings ein Monitoring einführen. Eine Evaluation in den kommenden Jahren soll darüber entscheiden, ob und wie der Bund das neue System anpassen will.
Quellen:
Bundesrat (admin.ch)
Bundesamt für Statistik (BFS)
Bundesamt für Gesundheit (BAG)
Santésuisse / NZZ am Sonntag
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