ADHS – wenn der Kopf macht, was er will
Das Wichtigste in Kürze:
- ADHS ist eine Stoffwechsel- und Funktionsstörung des Gehirns. Sie ist genetisch bedingt und somit vererbbar.
- Vor allem bei Mädchen treten die Symptome oft weniger deutlich auf. Viele Frauen werden deshalb erst im Erwachsenenalter diagnostiziert.
- Menschen mit ADHS sind oft sehr kreativ, begeisterungsfähig und sensibel.
- In der ADHS-Behandlung werden Symptome gelindert und Strategien für den Alltag entwickelt.
Was ist ADHS?
ADHS ist keine Krankheit im klassischen Sinne, sondern eine neurobiologische Entwicklungsstörung wie Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Schwäche) und Dyskalkulie (Rechenschwäche) sowie Formen des Autismus. Grund der Störung ist, dass Botenstoffe im Gehirn nicht richtig weitergeleitet werden und es daher zu Fehlern in der Informationsverarbeitung kommt. Sicher ist: ADHS hat nichts damit zu tun, dass die Betroffenen sich einfach mehr anstrengen müssten, um bessere Leistungen zu erbringen. Wie bei einer Fehlsichtigkeit handelt es sich bei ADHS um einen biologische Einschränkung der Person und Hilfsmittel können für schnelle Besserung der Symptome sorgen.
Menschen mit ADHS haben anders entwickelte Fähigkeiten als ihre Mitmenschen. Sie haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren (Aufmerksamkeitsdefizit), still zu sitzen (Hyperaktivität) und ihre Impulse zu kontrollieren (Impulsivität). Diese Verhaltensweisen beeinträchtigen sie in allen Lebensbereichen: In der Schule, weil sie nicht aufmerksam zuhören können, im Beruf, weil sie Schwierigkeiten mit Autoritäten haben oder in sozialen Beziehungen, weil ihr impulsives Verhalten als rücksichtslos empfunden wird. Menschen mit ADHS können auch eher in die Schuldenfalle geraten, weil sie Schwierigkeiten im Umgang mit Geld haben, zu Impulskäufen neigen oder vergessen, Rechnungen zu bezahlen.
Die Symptome von ADHS können unterschiedlich ausgeprägt sein. Sie müssen aber spätestens ab dem 12. Lebensjahr vorhanden sein, damit von ADHS gesprochen werden kann. ADHS kann sich also nicht erst im Erwachsenenalter entwickeln. Trotzdem erfolgen viele Diagnosen erst im Erwachsenenalter – weil die Symptome in der Kindheit nicht erkannt oder nicht abgeklärt wurden.
Eine Diagnose ist oft aufwändig und langwierig, aber lohnenswert. Mit der richtigen Behandlung kann die Lebensqualität der Betroffenen deutlich verbessert werden. Sie empfinden zudem oft Erleichterung, wenn sie feststellen, dass ihr Gehirn einfach anders funktioniert als das anderer Menschen und sie deshalb nicht 'seltsam', 'faul' oder 'dumm' sind.
Ursachen für ADHS
Menschen mit ADHS bewegen sich oft zwischen Extremen. Sie fühlen sich unterfordert, leiden aber gleichzeitig unter Reizüberflutung. Sie lassen sich von jeder Kleinigkeit ablenken, können sich jedoch auch stundenlang auf eine Sache konzentrieren und alles andere ausblenden. Obwohl sie vergessen, wo sie ihr Velo vor zehn Minuten abgestellt haben, erinnern sie sich genau an die Jacke, die ihr Freund vor zwei Jahren im Kino getragen hat. Sie gründen erfolgreiche Unternehmen, sind hingegen nicht in der Lage, den Müll rechtzeitig hinauszutragen. Obwohl sie Strukturen ablehnen, benötigen sie gute Organisation, um effektiv zu arbeiten.
Mangel an Botenstoffen im Gehirn
Hinter den Symptomen verbirgt sich eine Stoffwechsel- und Funktionsstörung im Gehirn. Bei Menschen mit ADHS ist das Gleichgewicht der Botenstoffe gestört – insbesondere das von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Das Hormon Serotonin ist für die Impulskontrolle verantwortlich. Noradrenalin sorgt für Aufmerksamkeit und Dopamin für Aktivität, Antrieb und Motivation. Die Aufgabe dieser Neurotransmitter besteht darin, Signale und Reize weiterzuleiten. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Menschen mit ADHS die Botenstoffe zu schnell abgebaut werden und deshalb weniger lange wirken. Dadurch kann das Gehirn die eintreffenden Reize nicht sinnvoll verarbeiten. Aufmerksamkeitsstörungen, mangelnde Impulskontrolle und Wahrnehmungsschwierigkeiten sind die Folge.
ADHS in der Familie
Warum Menschen ADHS entwickeln, ist nicht abschliessend geklärt. Der wichtigste Faktor ist jedoch die genetische Veranlagung. Wenn bei einer Person in der Familie ADHS diagnostiziert wird, ist es wahrscheinlich, dass auch andere Familienmitglieder betroffen sind. Das bedeutet auch, dass vermutlich viel mehr Menschen an ADHS leiden, als bisher bekannt ist. Umweltfaktoren können bei der Entwicklung von ADHS ebenfalls eine Rolle spielen. Dazu zählen Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, Traumata sowie die Exposition gegenüber Schadstoffen in der frühen Kindheit.
Symptome von ADHS
Aufmerksamkeitsdefizit, Impulsivität und Hyperaktivität gelten als die drei Hauptsymptome von ADHS. Diese Symptome sind jedoch sehr komplex und können in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten. Hyperaktivität bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Kind dauernd durch das Klassenzimmer rennt. Auch wer eine ständige innere Unruhe verspürt, leidet unter Hyperaktivität, die in diesem Fall jedoch nicht nach aussen sichtbar ist. So kann es passieren, dass ADHS-Symptome nicht erkannt werden. Besonders bei Mädchen zeigen sich ADHS-Symptome oft weniger offen, da sie dazu erzogen werden, nicht zu "wild" zu sein. Zudem beginnen viele Betroffene bereits in der Kindheit, ihre Symptome zu verbergen (sogenanntes "Masking"), aus Angst, dumm zu wirken oder abgelehnt zu werden. Ausserdem ging man lange davon aus, dass sich ADHS in der Pubertät durch die Hormonumstellung “auswächst”. Über ADHS im Erwachsenenalter wird erst seit diesem Jahrtausend geforscht. Deshalb wird ADHS in vielen Fällen erst spät diagnostiziert, insbesondere bei Frauen.
Merkmale von ADHS können sein:
- Konzentrationsschwierigkeiten
- leichte Ablenkbarkeit durch die Umgebung oder eigene Gedanken
- fehlende Motivation, Prokrastination, Probleme, länger an einer Sache zu bleiben
- Verträumt, in die eigenen Gedanken versunken, geistig abwesend
- Vergesslichkeit und/oder Desorganisation
- Probleme bei der Planung, Priorisierung und Einhaltung von Fristen
- Fehlendes Zeitgefühl (Time Blindness)
- erhöhter Bewegungsdrang, Unfähigkeit, länger stillzusitzen oder sich zu entspannen
- innere Unruhe, Gedankenkarussell oder rasende Gedanken, das Gefühl, nicht abschalten zu können
- übermässiges Reden
- Hyperfokus/Tunnelblick, alles um sich herum zu vergessen
- überstürztes Handeln, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, Wutausbrüche
- Risikofreudigkeit wie schnelles Fahren, Drogen, Extremsportarten
- Schneller Stimmungswechsel, Frustration, Wutausbrüche, niedriges Selbstwertgefühl
- grosse Angst vor Zurückweisung
Die positiven Seiten von ADHS
Obwohl Menschen mit ADHS oft mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dürfen wir nicht vergessen, dass ihre Fähigkeiten auch viele positive Seiten haben. Sie sind oft sehr kreativ, finden ungewöhnliche Lösungen, sind begeisterungsfähig und sensibel. Gerade in schwierigen Situationen laufen sie zur Höchstform auf. Wenn andere überfordert sind, können ADHS-Betroffene dank ihres Hyperfokus selbst knifflige Probleme lösen und einen Berg von Aufgaben in kürzester Zeit erledigen. Viele Menschen mit ADHS sind zudem charismatisch, arbeiten oder trainieren mit grossem Durchhaltevermögen, wenn sie eine Sache wirklich interessiert. Deshalb zeigen sie oft in einem bestimmten Bereich aussergewöhnlich gute Leistungen – wie zum Beispiel die Schauspielerin Emma Watson, der Sänger Justin Timberlake oder die Athletin Simone Biles, alles ADHS-Betroffene.
Diagnose von ADHS
Die Diagnose ADHS wird von einer Ärztin oder einem Arzt nach einer umfassenden Untersuchung gestellt. Dabei ist es wichtig, andere medizinische oder psychische Ursachen auszuschliessen. Es ist nicht möglich, ADHS mit einem einzigen Test festzustellen. Die Abklärung erfolgt in mehreren Schritten, einschliesslich Gesprächen über das Verhalten, die Symptome und deren Auswirkungen auf die verschiedenen Lebensbereiche der Betroffenen. Ausserdem werden wichtige Informationen über die frühe Entwicklung, die schulische Laufbahn, die Krankengeschichte und die familiäre Vorgeschichte von Verhaltensauffälligkeiten gesammelt. Eltern und Lehrer werden befragt. Schliesslich werden die vorhandenen Symptome nach Anzahl, Häufigkeit und Schweregrad beurteilt.
Für die Diagnose ADHS müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:
- Die Symptome müssen vor dem 12. Lebensjahr auftreten und länger als 6 Monate andauern.
- Die Symptome müssen in verschiedenen Lebensbereichen auftreten.
- Die Symptome müssen mehrere Kriterien eines anerkannten Klassifikationssystems erfüllen. Dazu gehören DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen), ICD-10 und ICD-11 (Internationale Klassifikation der Krankheiten).
Zunehmend wird ADHS auch bei Erwachsenen diagnostiziert. Das hat mehrere Gründe: Einerseits ist das Bewusstsein für die Störung gestiegen und ADHS wird nicht mehr nur als 'Kinderkrankheit' angesehen. Andererseits werden Symptome bei Frauen besser erkannt. Darüber hinaus wird heute häufiger bei der Behandlung von ADHS-Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Alkohol- und Drogenabhängigkeit ADHS diagnostiziert.
Behandlung von ADHS
Bei der Behandlung von ADHS geht es darum, die Symptome zu lindern und Strategien zu entwickeln, um mit ADHS-bedingten Schwierigkeiten im Alltag zurechtzukommen. Eine Kombination aus Medikamenten, Verhaltenstherapie, Anpassungen der Umgebung und Unterstützung durch das soziale Umfeld kann dabei helfen. Medikamente wie Ritalin oder Concerta können den Stoffwechselhaushalt im Gehirn regulieren. Es ist jedoch auch möglich, ADHS ohne Medikamente zu behandeln.
Quellen: msdmanuals.com, quarks.de, adhs.info, enableme.ch, adhs20plus.ch
Lesetipps zum ADHS
- ADHS ist kein Makel von Edward M. Hallowell und John J. Ratey. Rowohlt Verlag, 2022.
- Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S von Christine Carl, Ismene Ditrich, Christa Koentges und Swantje Matthies. Beltz Verlag, 2022.
- Kirmes im Kopf von Angelina Boerger. Kiepenheuer & Witsch, 2023.
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