Die wilde Welt im Kopf
Wie würdet ihr euch als Familie beschreiben?
Ricky: Ich würde uns als wild und verrückt bezeichnen. Wenn es hart auf hart kommt, dann halten wir immer zusammen. Wir sind emotional und sehr stark miteinander verbunden. Adele: Ich finde, wir passen als Familie gut zusammen. Jetzt gerade ist es ein bisschen angespannt mit Ferien und Arbeit und allem, aber ich bin sehr zufrieden.
Wann wurde bei euch ADHS diagnostiziert?
Ricky: Ich habe die Diagnose mit 38 erhalten, also vor elf Jahren. Eigentlich war ich wegen einer Erschöpfungsdepression in Behandlung – ich hatte zwei kleine Kinder, arbeitete 60 Prozent, musste pendeln und mein Team war chronisch unterbesetzt. Ich fühlte mich komplett ausgelaugt. Die Psychologin schlug eine ADHS-Abklärung vor, weil ich immer so hibbelig war, es allen recht machen wollte und tausend Ideen hatte. Die Diagnose war ein Schock für mich. Aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Dass ich nie zur Ruhe komme, dass ich zwar sehr kreativ und vielfältig bin, aber nie lange bei einer Sache bleiben kann, mich schnell langweile und schon mein ganzes Leben lang denke, ich sei wohl ein bisschen verrückt und einfach zu viel für den Rest der Welt – das verstehe ich jetzt natürlich viel besser.
War es trotzdem auch eine Erleichterung?
Ricky: Ja, natürlich. Es war ein Aufatmen. Zu merken, ich bin nicht verrückt oder krank, sondern dass in meinem Kopf die Verarbeitung von Reizen einfach anders abläuft. Diese Andersartigkeit befähigt dich auf der einen Seite zu Dingen, die andere nicht können, ist auf der anderen Seite aber auch belastend.
Wie war das bei dir, Adele?
Adele: Ich hatte in der Schule Konzentrationsschwierigkeiten. Und dann hat meine Mutter gemeint, dass ich mal zu einem Kinderpsychologen gehen sollte. Bei den Tests stellte sich heraus, dass ich ADHS habe. Ich finde es nicht so toll, aber ich muss damit leben.
Ricky: Zuerst wurde bei Adele nur eine Tendenz zu ADHS festgestellt. Doch vor etwa einem dreiviertel Jahr – also zwei Jahre nach der ersten Diagnose und gerade als sie in die Pubertät kam – wurden die Symptome deutlicher. Sie hatte Lernblockaden, konnte nicht in die Schule gehen, hat Vermeidungsstrategien angewandt. Das war schwierig, vor allem weil sie auch nicht darüber gesprochen hat. Irgendwann habe ich ihre Lehrerin angerufen und sie hat mir gesagt, dass Adele ja die letzten Tests nicht mitgeschrieben habe, weil sie krank gewesen sei – obwohl sie gar nicht krank war. Da war klar, dass es nicht so weitergehen kann. Das Kind war traurig, zurückgezogen, hat gelitten. Und bei der zweiten psychiatrischen Untersuchung war die Diagnose dann eindeutig.
Wie hast du dich gefühlt, als du nicht zu den Prüfungen gegangen bist, Adele?
Adele: Ich kann mich nicht gut konzentrieren und vergesse deshalb viel. Man übt, aber es klappt nicht oder man findet das Thema nicht interessant und hat keine Lust zu lernen. Dann bleibt man lieber zu Hause, als eine schlechte Note zu bekommen. Deswegen habe ich das meistens so gemacht. Als Teenager ist es schwierig, mit ADHS umzugehen.
Wie wirkt sich ADHS auf deinen Alltag aus, Ricky?
Ricky: Die Auswirkungen sind enorm! Man hat ein ganz anderes Leben als Menschen, die linear durchs Leben gehen, die einen genauen Plan haben. Diese Menschen buchen ihre Ferien Monate im Voraus, denken an die nötigen Versicherungen und an alles, was eben so dazugehört. Das alles gibt es in meiner Welt nicht. Die Diagnose war eine Erleichterung für mich, aber mein Alltag ist deswegen nicht weniger – ich sage jetzt mal liebevoll: chaotisch. Denn das Chaos ist im Kopf. Da sind ständig neue Sachen und die kann ich auch nicht abschalten. Aber ich habe wirklich viel über mein Verhalten und meine Wirkung auf andere gelernt. Dass ich jemandem zuhöre, dass ich andere ausreden lasse und die Leute nicht mit allem, was in mir brodelt, überfordere – das ist wirklich eine tägliche Herausforderung.
Und auf dich als Mutter?
Ricky: Als die Kinder klein waren, haben wir viel gebastelt und gemalt und immer was Neues gemacht. Auch ein bisschen verrückte Dinge. Wir sind zum Beispiel auf Hügel geklettert und heruntergerollt. Ich fand das schön, aber ich hatte auch oft ein schlechtes Gewissen, weil die Gesellschaft immer sagt, Kinder brauchen klare Regeln. Weil ich mich selber mit Regeln und Gehorsam schwer tue, und damit, dass alle alles gleich machen müssen.
Ricky (49) arbeitet als Betreuerin in einer Tagesschule. Sie lebt mit ihrer Tochter Adele (14), ihrem Mann und ihrem 18-jährigen Sohn in Biel. Hier fühlt sich die Familie sehr wohl, weil die Stadt so bunt, multikulturell und vielfältig ist. Adele besucht die zweisprachige Sekundarschule. Später möchte sie in einem kreativen Beruf arbeiten, zum Beispiel als Grafikerin oder Illustratorin.
Wie beeinflusst ADHS deine Mutter?
Adele: Meine Mutter wird sehr schnell emotional. Ich will das jetzt nicht verurteilen... Sie ist nicht mega sensibel, aber wenn sie zum Beispiel einen schlechten Tag hat oder etwas Schlimmes passiert, dann wird sie eben schnell emotional. Dann sagt mein Vater auch: «Beruhige dich, wir müssen jetzt nicht emotional werden.» Was eigentlich gar nicht hilft, aber ich weiss nicht, ob er das weiss. Wir versuchen es ihm zu sagen. Aber meine Mutter und ich verstehen uns ganz gut, weil wir beide ADHS haben. Das verbindet uns.
Ricky, welche Strategien und Hilfsmittel hast du entwickelt, um deinen Alltag besser zu bewältigen?
Ricky: Früher hatte ich immer “Mutti-Zettel” mit 25 Aufgaben pro Tag. Und wenn ich fünf davon nicht geschafft habe, war ich wahnsinnig schlecht gelaunt. Später habe ich verstanden, dass es der Dopaminmangel ist, der einem das Gefühl gibt: «Ich schaffe das alles nicht, ich bin nicht gut genug.» Ich musste lernen, Nein zu sagen. Ich lade mir immer zu viel auf, und wenn ich abends nach Hause komme, fühle ich mich total erschöpft. Wenn dann noch die ganze Familie etwas von mir will, kann das schon mal zu viel werden. Mir helfen Spaziergänge, Velofahren und Yoga. Es geht vor allem darum, michnicht zu überfordern und Stress abzubauen.
«Mir helfen Spaziergänge, Velofahren und Yoga. Es geht vor allem darum, mich nicht zu überfordern und Stress abzubauen.»
Adele, was hilft dir, dich besser zu konzentrieren und zu organisieren?
Adele: Auf jeden Fall Musik. Ich habe meistens Kopfhörer auf, wenn ich zeichne oder lerne. Oder allein sein. Und Abwechslung: eine halbe Stunde arbeiten und dann zehn Minuten was anderes machen. Pausen sind wichtig. Wenn ich lerne oder die Lehrerin etwas erklärt, zeichne ich immer etwas. Das ist ganz toll und hilft mir, mich zu konzentrieren. Es fühlt sich schön an und so ruhig.
Nehmt ihr Medikamente?
Ricky: Am Anfang habe ich Ritalin genommen, aber das habe ich wieder abgesetzt, weil es mich überfordert hat. Ich fühlte mich zwar klarer, wacher und strukturierter, aber das kostete mich auch viel Energie. Mittlerweile nehme ich an Arbeitstagen Elvanse in niedriger Dosierung. Ich arbeite in einer Tagesschule. Da ist es sehr laut, sehr wild und man ist immer mit tausend Bedürfnissen konfrontiert. Damit komme ich sehr gut durch den Tag und kann strukturiert arbeiten. Wenn es mir wirklich zu viel wird, merke ich jetzt, dass ich eine Pause brauche. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, welche Dinge mir helfen, um gut zu funktionieren.
Adele: Ich habe eine Zeit lang das Medikament Elvanse genommen. Eine Weile hat es geholfen, aber dann nicht mehr. Danach hatte ich überhaupt keinen Bock mehr auf alles. Jetzt nehme ich keine Medikamente mehr. Mit der Therapie geht es auch ohne besser. Der Therapeut hilft mir, mich besser zu verstehen.
Welche Eigenschaft, die du an dir magst, wird durch ADHS verstärkt?
Adele: Wenn ich etwas wirklich mag, dann kann ich mich auch voll darauf konzentrieren und wirklich durcharbeiten. Das ist echt cool. Und ich habe viel Fantasie. Ricky: Für mich ist diese Kreativität auch eine grosse Freiheit. Manchmal haben meine Kolleginnen in der Tagesschule gar keine Ideen. Ich brauche einfach drei Materialien und zack-zack habe ich eine visuelle Vorstellung – Adele übrigens auch. Das ist echt cool. Und wenn Adele und ich gemeinsam Ideen umsetzen, dann matcht das. Die Zusammenarbeit ist schön und unbelastet. Wir spinnen herum und blödeln und machen tolle Sachen. Adele ist an sehr vielen Dingen interessiert. Ich mag diese Offenheit. Das Interesse hält mitunter nicht lang an, bei mir ja auch nicht, aber es ist schön, dass es da ist. Das ist auch eine Gabe.
«Wenn ich etwas wirklich mag, dann kann ich mich auch voll darauf konzentrieren und wirklich durcharbeiten. Das ist echtcool. Und ich habe viel Fantasie.» Adele
Habt ihr Rituale oder Gewohnheiten, die euch helfen, mit den Herausforderungen von ADHS umzugehen?
Ricky: Manchmal gucken wir eine ganze Netflix-Serie in einer Nacht, mit vielen Chips, bis es uns aus den Ohren kommt. Das hilft mir immer. Oder morgen haben wir uns zum Puzzeln verabredet.
Adele: Ich habe Mama verschiedene Gutscheine geschenkt, für Dinge, die wir zusammen machen können. Da kann sie sich immer einen aussuchen. Puzzeln ist auch dabei.
Ricky: Das mit den Ritualen ist in der Pubertät mit diesem ganzen Ablösungsprozess gar nicht so einfach. Wir sind kein Mutter-Tochter-Team, das den ganzen Tag redet, und wir sind auch keine besten Freundinnen. Ich finde, das muss auch nicht sein. Adele schickt mir ab und zu Musik. Dann höre ich sie mir an und sage: «Wow, gefällt mir.» Und dann schicke ich ihr wieder was und dann sagt sie: «Das finde ich cool!» oder «Oh nee, Mama, das geht gar nicht!». Aber Rituale und ADHS, das passt irgendwie nicht so richtig zusammen. Wir wollten mal einführen, dass wir uns sonntags auf die Couch legen und jeder liest sein Buch. Das funktioniert leider gar nicht. Aber so kleine, feine Sachen, mal ein Glace essen gehen oder so, das ist schön.
Wie unterstützt ihr euch gegenseitig im Umgang mit ADHS?
Ricky: ADHS ist nicht jeden Tag Thema bei uns. Aber es ist schön, wenn wir in einer Situation merken: «Da ticken wir ähnlich, das können wir nachvollziehen». Aber Adele ist pubertär und ich bin menopausierend – da spielen noch andere Hormone mit als nur die Neurotransmitter, die bei uns ADHS- Betroffenen nicht so funktionieren wie bei anderen.
Adele: Wir verstehen uns super und dann spielt es eigentlich auch keine Rolle, ob wir jetzt ADHS haben oder nicht.
Was wünscht ihr euch von Lehrpersonen, eurem Umfeld und der Gesellschaft im Umgang mit neurodiversen Menschen?
Adele: Ich habe eine Lehrerin, die mir sehr hilft und mir immer wieder andere Möglichkeiten vorschlägt, wie ich das Lernen angehen kann. Das finde ich sehr gut. Aber eigentlich finde ich, wenn man ADHS hat, ist man ja nicht krank. Deswegen ist es für mich auch nicht so schlimm, wenn das jemand nicht beachtet. Ich bin ja immer noch Adele.
Ricky: Von Seiten der Schule gibt es viele Angebote, zum Beispiel dass Adele mehr Zeit für Tests bekommt oder dass sie sich zurückziehen kann, wenn ihr eine Situation zu viel wird. Die Lehrerin hat wirklich wahnsinnig viel Geduld. Sie macht Adele immer wieder Mut und sagt: «Komm, du schaffst das. Komm in die Schule, sei da, aber versuche, den Druck rauszunehmen.» Dadurch hat sich die Situation stark verbessert.
Was würdet ihr anderen Familien raten, die in einer ähnlichen Situation sind?
Adele: Eine Therapie machen.
Ricky: Ja, auf jeden Fall! Es ist wichtig, herausfinden, was einem guttut. Und mein Rat für Eltern: versuchen, zuzuhören, sich wirklich auf das Kind zu konzentrieren und den Stress zu reduzieren. Ganz allgemein möchte ich noch sagen: Über Menschen mit ADHS liest man immer wieder: «Das sind Menschen, die können nicht so viel leisten.» Das stimmt nicht. An guten Tagen leistet ein neurodiverser Mensch dreimal mehr als der Rest des Teams – dafür braucht er dann vielleicht mal einen Tag, um zu Hause zu bleiben und sich zu erholen. Müssten wir als Gesellschaft nicht mehr daran arbeiten, dass wir diese Vielfalt nutzen und tragen können?
Ist ADHS eine Mode-Diagnose?
ADHS ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung. Die Botenstoffe im Gehirn sind nicht im Gleichgewicht und es kommt zu Fehlern in der Informationsverarbeitung. Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität sind typische Symptome (lesen Sie mehr dazu hier).
Viele verspätete Diagnosen
Gerade bei Frauen und Mädchen wird ADHS häufig übersehen, weil sie auch heute noch eher zum Stillsitzen angehalten werden – sie wenden die Symptome dann oft nach innen. Ihre Hyperaktivität äussert sich eher in innerer Unruhe oder Tagträumen. In den letzten Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob es sich bei ADHS um eine Modeerscheinung handle. Dazu sagt Dr. med. Wolfgang Prinz, Spezialist für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie aus Biel: «Tatsache ist, dass ADHS heute aufgrund verbesserter Diagnostik und erhöhter Sensibilisierung häufiger erkannt wird. Früher wurden die Betroffenen oft einfach als zappelig, faul oder dumm abgestempelt und mit ihrem Leiden allein gelassen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Diagnosen fundiert und nicht leichtfertig gestellt werden.»
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